Let’s celebrate
In 16 Minuten fasst Emile V. Schlesser zusammen, was uns ein ganzes Jahr lang beschäftigt hat: «Vis-à-vis» Ein großartiger Kurzfilm zum Thema Verantwortung in der Corona-Krise.
Einer muss immer die Arschkarte ziehen. In „Vis-à-vis“ ist es Schauspieler Timo Wagner. Ihm wird die Rolle des Freundes zuteil, der seine Schutzmaske partout nicht ablegen will und den an- deren nicht um die Ecke traut. Trotzdem hat er die Einladung von Tommy Schlesser zu einer illegalen Party bei sich zu Hause angenommen. Zum Teufel mit dem Corona-Modus. Endlich wieder zusammen sein und ausgelassen feiern... Nicht bis der Arzt kommt, sondern – blöderweise – die Polizei. Nachbarn hätten sich über die zu laute Musik beschwert. Zum Glück weiß der Gastgeber, was seine Rechte sind. Ohne Durchsuchungsbeschluss keine Durchsuchung. Das Bad dürfen die beiden uniformier- ten Beamten demnach nicht betreten. Dort duscht nämlich gerade Sophie Mousel, während Julie Kieffer und Konstantin Rommelfangen sich wahrscheinlich vor Lachen biegen und Timo Wagner ein noch schlechteres Gewissen bekommt.
Schuldig gefühlt hat sich ebenfalls Regisseur Emile V. Schlesser, als er und seine Freundin nach monatelanger sozialer Isolation beschließen, trotz Covid-19-Kontaktbeschränkungen eine Geburtstagsfeier zu organisieren. Und so empfangen die beiden heimlich ein paar Freunde und tanzen zusammen bis in die frühen Morgenstunden. Ähnlich wie Tommy Schlesser in „Vis-à-vis“ tritt der Filmemacher gelegentlich auf den Balkon, um frische Luft zu schnappen. Obwohl er ziemlich viel getrunken hat und in Partylaune ist, fällt ihm nicht nur auf, dass in der Nachbarwohnung Licht brennt, sondern wird ihm zudem bewusst, dass dieses Licht seit mindestens einer Woche nicht ausgeschaltet worden ist. Ob der älteren Frau, die dort wohnt, etwas Schlimmes passiert ist?
Im Kurzfilm bittet Tommy Schlesser (spielt übrigens grandios) die Polizisten, nach dem Rechten zu schauen und ihn wissen zu lassen, ob es der Seniorin gut geht, aber das ist aus Datenschutzgründen nicht möglich. Dass er sich um das Wohl einer Fremden sorgt, während er es in der eigenen Wohnung krachen lässt, bringt die Unsicherheit und die Widersprüchlichkeit in seinem und dem Verhalten vieler anderer auf sehr treffende Art und Weise zum Ausdruck. Monatelang haben wir uns mit Fragen auseinandergesetzt, auf die es keine genauen Antworten gegeben hat, weil wir es mit einem Virus zu tun gehabt haben und nach wie vor zu tun haben, das genauso gefährlich wie unberechenbar ist.
Obwohl „Vis-à-vis“ lediglich eine Momentaufnahme ist, fassen die 16 Minuten die wichtigsten Themen der Pandemie zusammen. Es geht um Verantwortung und kollektive Verletzlichkeit sowie darum, wie die Ausnahme- situation sich auf unsere Beziehungen ausgewirkt hat. Oder hätten Sie sich vor anderthalb Jahren vorstellen können, dass eine Umarmung oder ein Händedruck plötzlich eine Bedrohung für andere darstellen? DasTolle an Emile V. Schlessers Regiearbeit ist deren Kondensierung. Darüber hinaus hat man als Zuschauer das Gefühl, Teil der Geschichte zu sein. Es gibt sozusagen keine Distanz zwischen dem, was erzählt wird, und dem, was man selbst erlebt hat oder hätte erleben können. Auch wenn wir uns momentan ein wenig von der Krise wegbewegen, bleibt dieser großartige Kurzfilm (der erste des von Govinda van Maele und Adolf el Assal ins Leben gerufenen, längerfristigen Projekts „Filmreakter Quickies“) ein wertvoller Beitrag über eine Zeit, die uns auf die Probe gestellt hat und über die wir irgendwann hoffentlich sagen können, dass es eine komische Zeit gewesen ist. Gabrielle Seil